Die Visby-Linsen
Eine Arbeit von Olaf Schmidt, Prof. Dr. Bernd Lingelbach und Karl-Heinz Wilms von der Fachhochschule Aalen. Text und Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der oben genannten Autoren.
Eine Arbeit von Olaf Schmidt, Prof. Dr. Bernd Lingelbach und Karl-Heinz Wilms von der Fachhochschule Aalen. Text und Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der oben genannten Autoren.
Die Frage nach dem Entstehungszeitpunkt der Brille oder deren Vorläufer beschäftigt schon Generationen von Augenoptikern. Bisher war man der Ansicht, daß die Entstehung des ersten Vergrößerungsinstrumentes im Zusammenhang mit der Übersetzung des Buches „Schatz der Optik“ vom arabischen Gelehrten Ibn el Heitam (996-1038) stand. Darin berichtete er über die Lehren des Sehens, der Refraktion und der Reflexion. Bahnbrechend war seine Überlegung das Auge mittels einer geschliffenen, optischen Linse zu unterstützen!
Um 1240 wurde das Buch des Arabers Ibn el Heitam in das Lateinische übersetzt. Westeuropäische Mönche griffen den Gedanken Ibn el Heitam’s auf und fertigten überhalbkugelige Plankonvexlinsen. Das Jahr 1240 stand bisher als „Meilenstein“ in der Entwicklungsgeschichte der Brille.
Ein Schatzfund in Gotland bringt diesen „Meilenstein“ allerdings ins Wanken. Olaf Schmidt, Prof. Dr. Bernd Lingelbach und Karl-Heinz Wilms von der Fachhochschule Aalen veröffentlichten im November 1998 ihre Untersuchungen über Kristall-Linsen aus dem 11. Jahrhundert.
Die auf Gotland gefundene bikonvexe Bergkristall-Linse war Teil eines Schatzes, der in der Wikingerzeit (11./12. Jahrhundert) niedergelegt wurde und ist asphärisch gestaltet. Dies ist ungewöhnlich, wenn man bedenkt, daß sie vor etwa 1000 Jahren hergestellt wurde!
Es gibt andere Funde auf Gotland, die ähnliche Linsen enthielten. Einige dieser Linsen sind in Gotlands Fornsal, dem historischen Museum in Visby, ausgestellt. Andere befinden sich in verschiedenen Museen, beispielsweise in Stockholm, oder sind verloren gegangen.
Die Verarbeitung von Bergkristall war praktisch in der gesamten im 11. Jahrhundert bekannten Welt verbreitet. Daher ist nicht mit Sicherheit zu sagen, woher die hier besprochenen Linsen kommen. Da sie in mehreren unterschiedlichen Schätzen gefunden wurden, kann nicht davon ausgegangen werden, daß alle denselben Ursprung haben. Auch die Analyse der Linsen ergab keine stichhaltigen Hinweise auf eine gemeinsame Herkunft der Linsen.
Visby-Linsen Bei den gefassten Steinen besteht die Möglichkeit, daß der Kristall fertig geschliffen importiert wurde und lediglich die Fassung auf Gotland gefertigt wurde. M. Stenberger zufolge zeigt besonders die Fassung des kugeligen Anhängers typische Merkmale gotländischer Goldschmiedekunst der Wikingerzeit, während es bei den anderen gefassten Stücken zumindestens zweifelhaft ist, ob die Fassungen auf Gotland gefertigt wurden. Die Ausführung der Arbeit spricht dafür, daß alle Anhänger außer dem kugelförmigen importiert wurden, die Schmuckstücke also fertig waren, als sie Gotland erreichten.
Damit ergibt sich eine Reihe von Möglichkeiten, auf welche Weise die Linsen nach Gotland gekommen sein könnten. Eine Möglichkeit besteht darin, daß die Stücke gekauft oder getauscht wurden. Die Handelsbeziehungen der Wikinger waren weiträumig genug. Sie hatten Kontakte in die gesamte übrige Welt. Die schwedischen Wikinger – und auch die Gotländer – konzentrierten sich in der fraglichen Zeit auf den Handel im Osten und Südosten. Daher macht es Sinn, die Herkunft der Steine zunächst dort oder im fernen Osten zu suchen. Nach Meinung von M. Stenberger wurden die Kristalle wahrscheinlich aus dem Orient oder Persien nach West- oder Südwestrußland gebracht, wo sie mit einer Silberfassung versehen wurden. Von dort aus könnten sie dann nach Gotland gebracht worden sein.
Es gibt allerdings auch Alternativen zu dieser Möglichkeit. Beispielsweise kann ein solcher Kristall von einem ehemaligen Mitglied der Waräger-Garde aus Byzanz nach Gotland gebracht worden sein, sei es als Beute eines Feldzuges oder als „Mitbringsel“ aus dem fernen Osten. Zeitlich würde diese Möglichkeit sehr gut passen, da die Zahl der Nordmänner in der Waräger-Garde in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts nachweislich zurückging. Die Wikinger nahmen ihre Frauen normalerweise nicht mit auf Fernreisen. Nach Beendigung ihrer Aufgabe kehrten also wahrscheinlich die meisten in ihre Heimat zurück und nahmen die erworbenen Kostbarkeiten mit.
Gefasste und ungefasste Objekte aus Bergkristall tauchten ziemlich plötzlich gegen Ende des 11. Jahrhunderts auf und verschwanden ebenso plötzlich wieder. Das legt den Verdacht nahe, daß alle Stücke dieser Art Gotland bei ein und derselben Gelegenheit erreichten, zum Beispiel über einen Händler oder aber als Teil einer Kriegsbeute.
Die Darstellung der Schnittweiten der oben abgebildeten Linse erinnern sehr stark an die Aberrationskurven moderner asphärischer Gläser! Die Abweichungen von der Gaußschen Schnittweite bewegen sich bis zu einer Einfallshöhe von etwa 17mm unterhalb von 1mm! Damit übertrifft diese Linse alle anderen untersuchten Linsen bei weitem.
Die geringen Abweichungen von rotationssymmetrischen Körpern lassen für die meisten der untersuchten Linsen den Schluß zu, daß sie mit einem Drehverfahren hergestellt wurden. Die Ergebnisse haben gezeigt, daß die Flächen fast perfekt elliptisch sind. Der Schmuckanhänger Nr.3 dagegen ist fast perfekt kugelförmig und zeigt, daß die Handwerker jener Zeit durchaus in der Lage waren, sphärische Flächen herzustellen. Offenbar war also die elliptische Form beabsichtigt.
Allerdings wurden die Flächen nach dem Drehvorgang offenbar noch weiter bearbeitet. Darauf weisen die Abflachungen auf den Kuppen der Linsenflächen sowie die Unregelmäßigkeiten im Randbereich hin.
Aus welchem Grund diese Nachbearbeitungen vorgenommen wurden ist unklar. Im Randbereich der Linsen mag die nachträgliche Bearbeitung dazu gedient haben, ein gleichmäßiges Randprofil ohne Grate zu erzeugen, um die Linse später gut einfassen zu können.
Die bei allen Linsen vorhandene Abflachung der Kuppen ist so nicht zu erklären. Sie ist wahrscheinlich Folge des Fertigungsverfahrens. Da diese Abflachung jedoch bei jeder der untersuchten Linse festzustellen ist, kann der Schluß gezogen werden, daß das Fertigungsverfahren für alle Linsen das Gleiche ist.
Abgesehen von den beschriebenen Unregelmäßigkeiten an den Polen und an den Rändern zeigen alle untersuchten Linsen „Welligkeiten“ auf ihrer Oberfläche. Diese Wellen sind wahrscheinlich eine Folge der Nachbearbeitung der Linsen und können auf unterschiedliche Weise entstanden sein. Kleinere Unregelmäßigkeiten dieser Art könnten durch den Poliervorgang verursacht worden sein.
Die in Visby untersuchten Linsen, besonders die größeren, zeigen deutliche Vergrößerungen. Zudem ist die Qualität der Abbildung sehr hoch. Die Verzeichnung der größten der ungefassten Linsen ist fast bis zum Rand hin verschwindend gering. Es ist schwer vorstellbar, daß diese Eigenschaften dem Hersteller oder dem Benutzer verborgen geblieben sein konnte. Die Schmuckstücke, die von der Rückseite mit einer Silberplatte beschlagen sind, deuten sogar darauf hin, daß die optischen Eigenschaften der Linsen nicht nur erkannt, sondern auch gezielt eingesetzt wurden. Der Silberbeschlag hinter dem Bergkristall reflektiert das Licht gerichtet. Jeder dieser Anhänger erzeugt deutlich erkennbare Bilder der vor ihm befindlichen Objekte. Das bedeutet, daß sowohl die Rückseite das Linse als auch die dem Kristall zugewandte Oberfläche des Silberbeschlags poliert sein müssen. Da das Polieren zur damaligen Zeit einen nicht unerheblichen Mehraufwand darstellte, ist nicht einzusehen, warum ein Gold- oder Silberschmied sich diese Arbeit machen sollte, es sei denn, er verfolgte damit ein bestimmtes Ziel, nämlich eine bessere Lichtreflexion hinter dem Stein und damit einen interessanten Effekt am fertigen Schmuckstück.
Es gibt weitere Beispiele dafür, daß Goldschmiede die optische Wirkung transparenter Materialien ausnutzten. Jay M. Enoch beschreibt das komplizierte und aufwendige Herstellungsverfahren eines altgriechischen Rings, unter dessen Deckglas „das Gold zu fließen schien“. (Early lens use, aus „optometry and vision science, 1996“)
Eine zentrale Frage ist, wie alterssichtige Leute gelesen haben und wie ältere Handwerker sehr feine Arbeiten angefertigt haben. Eine zum Beispiel von Gorelick und Gwinnett geäußerte Meinung ist, daß feine Arbeiten von jungen und/oder myopen Leuten verrichtet wurden. Dagegen spricht die Tatsache, daß die Filigranarbeiten vieler Schmuckstücke aus dieser Zeit von so hoher Qualität sind, daß der Handwerker über eine große Erfahrung verfügt haben muß, also kaum ein angestellter junger Mann gewesen sein kann. Vielleicht existieren auch beide Möglichkeiten nebeneinander.
Kann es sein, daß die in Visby ausgestellten ungefassten Linsen als Lupen oder Lesesteine gedacht waren? Die Abbildungsqualität der in Visby untersuchten ungefaßten Linsen ist recht unterschiedlich. Besonders für die größte Linse muß jedoch festgestellt werden, daß sie durchaus als Lupe verwendet werden können.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die festzustellende „Optimierung“ einiger Oberflächen zufällig entstanden sein kann oder ob diese optimierten Flächen gezielt hergestellt wurden. Die zur Optimierung brechender Oberflächen erforderliche Mathematik war zur Zeit der Fertigung der Linsen noch nicht bekannt. Es bleibt also nur die Möglichkeit der Optimierung aufgrund von Erfahrungswerten. Da die Kunst der Bearbeitung von Bergkristall schon sehr weit entwickelt war und seine optischen Eigenschaften wahrscheinlich bewußt eingesetzt wurden, ist es denkbar, daß ein findiger Handwerker diese Optimierung bewußt vorgenommen hat.
Auf der anderen Seite muß festgestellt werden, daß die meisten der untersuchten Linsen Oberflächen haben, bei denen von einer Optimierung nicht die Rede sein kann. Vor diesem Hintergrund bleibt auch die Möglichkeit offen, daß die Oberflächen der Linsen einfach dem „Formgefühl“ des Handwerkers entstammen und die zum Teil hervorragenden Abbildungseigenschaften nur zufällig entstanden sind.
Die Analyse der in Visby ausgestellten Linsen zeigt, daß einige der untersuchten Linsen optische Eigenschaften haben, die weit besser sind als die später entstandener sphärischer Lesesteine. Die Abbildungsqualität ist teilweise sogar so gut, daß sich diese vor ca. 1000 Jahren handgefertigten Linsen mit heutigen asphärischen Linsen, die mit Hilfe von CNC-Maschinen hergestellt werden, messen können. Die Annahme, die „optimierte“ Form der Linsen sei aus einem Zufall bzw. einer Ungenauigkeit in der Fertigung hervorgegangen, ist nicht haltbar. Die kugelförmige Linse aus der gleichen Zeit zeigt, daß die Handwerker jener Zeit durchaus in der Lage waren, sphärische Flächen herzustellen. Die elliptische Form der Oberflächen und die damit verbundene Verbesserung der abbildenden Eigenschaften ist demnach durchaus beabsichtigt gewesen.
In der Literatur sind keinerlei Hinweise darauf zu finden, daß eine gezielte Optimierung vorgenommen wurde. Das bedeutet jedoch nicht, daß nicht versucht wurde, die Abbildungseigenschaften von Linsen zu verbessern. Die beeindruckende Qualität der untersuchten Linsen legt den Verdacht nahe, daß die Praktiker der Wissenschaft ein ganzes Stück voraus waren. Offenbar wurde bereits an der Verbesserung der Abbildungsqualität von Linsen gearbeitet, lange bevor Mathematiker in der Lage waren, die Eigenschaften brechender Flächen korrekt zu beschreiben.
Leider ist nicht eindeutig zu klären, woher die untersuchten Linsen stammen. Mit dem Wissen über die Herkunft der Linsen ließe sich leichter herausfinden, ob sie alle aus einer Hand stammen oder eine Sammlung aus verschiedenen Werkstätten darstellen. Aufgrund der in dieser Arbeit dargestellten Ergebnisse muß darüber nachgedacht werden, ob das Bild, das wir uns heute von den Kenntnissen der „Linsenschleifer“ des Mittelalters machen, richtig ist.
Oberflächen, die so gute Abbildungseigenschaften aufweisen wie die in Visby ausgestellten Linsen, entstehen nicht aus Unwissenheit. Es scheint vielmehr so zu sein, daß dieses vorhandene (empirische) Wissen etwa 500 Jahre lang verloren war, bis Descartes als erster die ideal brechende Fläche berechnete, aber interessanterweise nicht das Werkzeug hatte, um eine Linse mit einer solchen (asphärischen) Fläche herzustellen.